Das VG Lüneburg nimmt an, dass eine Bahnfahrt Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinne sein kann, wenn die Tätigkeit des Arbeitnehmers darin besteht, Neufahrzeuge auf der eigenen Achse von wechselnden Abholorten zu wechselnden Zielorten zu überführen.
Ist Bahnfahren Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes? Fragen im Zusammenhang mit der arbeitszeitrechtlichen Beurteilung von Reisezeiten stellen sich Arbeitgeber immer wieder, und die Beantwortung hängt – wie so oft – ausschließlich vom jeweiligen Einzelfall ab.
Jüngst hat das Verwaltungsgericht Lüneburg mit Urteil vom 02.05.2023 – 3 A 146/22 entschieden, dass Bahnreisezeiten unter bestimmten Voraussetzungen zur Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes zählen und damit zu erfassen sind.
Die Klägerin betreibt ein Speditionsunternehmen, das auf die Überführung von Nutzfahrzeugen spezialisiert ist. Die für die Überführung eingesetzten Arbeitnehmer fahren von ihrem Wohnort per Taxi oder mit der Bahn zum jeweiligen Abholort des Fahrzeugs, übernehmen es und fahren das Fahrzeug dann auf der eigenen Achse zum Zielort. Von dort reisen sie wiederum mit der Bahn zurück nach Hause. Ein fester Arbeitsplatz existiert nicht. Die Arbeitnehmer verfügen über eine Bahn Card 100 für die 1. Klasse und planen die bis zu zwölfstündigen Fahrten selbstständig. Diverse Überführungspapiere, Firmenhandy für die telefonische Erreichbarkeit während der Fahrtzeit, Schutzbezüge sowie eine mobile Mautbox müssen sie mit sich führen. Im August 2018 überprüfte die beklagte Arbeitsschutzbehörde (Gewerbeaufsichtsamt) im Betrieb der Klägerin die Einhaltung der Arbeitszeitregelungen und kam zu dem Ergebnis, dass die Bahnfahrten als Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes zu bewerten und damit als solche zu erfassen sind. Gegen den nachfolgenden Bescheid wehrt sich die Klägerin mit dem Argument, die betroffenen Arbeitnehmer seien während der Bahnfahrt in der Gestaltung ihrer Zeit völlig frei, sodass ihnen nur ein „Freizeitopfer“ abverlangt werde.
Das VG Lüneburg schloss sich der Ansicht des Beklagten an und entschied, dass im konkreten Fall die europäische Arbeitszeit-Richtlinie eine von der gängigen Definition des Bundesarbeitsgerichts (sog. Beanspruchungstheorie) abweichende Bestimmung des Begriffs der Arbeitszeit erfordere. Für die europarechtliche Begriffsbestimmung sei allein entscheidend, ob der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber zur Verfügung stehe und seine Tätigkeit ausübe oder Aufgaben wahrnehme. U.a. begründete das VG Lüneburg seine Entscheidung damit, dass die regelmäßig mehrstündige An- und Abreise mit der Bahn das notwendige Mittel für die eigentliche Leistungserbringung darstelle. Die Arbeitnehmer hätten nicht die Möglichkeit, über ihre Zeit selbst zu bestimmen.
Mitgliedsunternehmen können nähere Informationen zu den Urteilsgründen und deren Auswirkungen mit Blick auf eine etwaige Vergütungspflicht von Reisezeiten, Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates sowie Kontrollen der zuständigen Arbeitsschutzbehörden dem A-Rundschreiben zum gleichen Thema entnehmen, das im ArbeitgeberNet unter „Aktuelles” gespeichert und nach Veröffentlichung in unserem monatlichen Gesamtrundschreiben enthalten ist.